Julmust

Julmust ist ein Limonadengetränk, das hauptsächlich in Schweden verkauft wird. Es ähnelt dem in Deutschland bekannten Malzbier und enthält neben Hopfen und Malz 30 weitere Zutaten. Als Julmust (von schwedisch: jul – Weihnachten) wird es zum Jahresende angeboten. In der Osterzeit heißt es Påskmust (von schwedisch: påsk – Ostern). Mein Bruder nennt es jedoch „DDR-Cola“ – sieht aus wie Cola, schmeckt aber anders, völlig anders.

Adventszeit in Schweden. Mein Handy klingelt: die Rechtspsychiatrie meldet sich. Eile ist geboten. Ein Patient hat Angstzustände: mit ihm ist nicht zu reden. Ich kenne die Rechtspsychiatrie in Göteborg von mehreren Besuchen. Ein Krankenhaus mit hohen Mauern, langen Gängen und hier sind Patienten untergebracht, die auf eine richterlich angeordnete „kleine“ oder „große“ rechtspsychiatrische Untersuchung warten. Oft ist gleich ein ganzes Untersuchungsteam beteiligt: Ärzt*innen, Psychologen, Sozialarbeiter*innen, um nur einige zu nennen. Am Tor – oder sagen wir „Wache“ – werde ich erwartet, schließe Handy, Schreibzeug und meine Tasche ein, passiere noch einmal die Sicherheitskontrolle und renne dann hinter einem Pfleger über endlose Gänge in Richtung „Haftraum“. Ich bekomme knappe Informationen: ein Mann, 40 Jahre, aus Deutschland, kam vor einigen Monaten nach Schweden und mietet ein entlegenes Häuschen. Anscheinend war der Patient in Deutschland lange obdachlos, die kleine Hütte im schwedischen Wald konnte er sich leisten, doch nach wenigen Wochen ging ihm das Geld aus.  Das zuständige schwedische Sozialamt half zwar aus und bot sogar eine Beteiligung an der Heimreise nach Deutschland an, aber der Mann lehnte ab. Er blieb in seiner Waldhütte, die Zeit verging. Der Vermieter meldete sich, verlangte die ausstehende Miete, stellte Wasser und Strom ab. Der Mann blieb. Die Polizei schaute vorbei – so wie schwedische Polizei nun einmal ist: höflich, freundlich, aber bestimmt. Der Mann bekam eine Frist von 1 Woche – dann sollte er das Häuschen verlassen. Er blieb. Die Polizei kam wieder, stellte Räumung in Aussicht. Am gleichen Tag betrank sich der Mann und begann zu randalieren. Mit anderen Worten: er schlug die Hütte kurz und klein, zertrümmerte Mobiliar und riss den Holzfussboden auf, machte damit Feuer. Es folgten Festnahme, Vorführung beim Richter – und der wies den Mann in die Rechtspsychiatrie ein.

Vor der Tür des Haftraums blieb der Pfleger stehen. Hinter der dicken Tür, rumorte es angsteinjagend, der Mann schrie. „Versuch du es doch mal mit ihm“, schlug mir der Pfleger vor. Inzwischen waren weitere Pfleger zu uns gestoßen – ausgestattet mit Schlagstock und dicken Handschuhen. Der Pfleger schloss die Tür von außen auf, ich öffnete sie einen Spalt und schaute hinein. Der Haftraum war – so ist es in der Rechtspsychiatrie üblich – äußerst sparsam möbliert: Stuhl und Tisch sind auf dem Boden festgeschraubt, so dass sie nicht als Geschosse dienen können. Über dem Waschbecken fehlt der Spiegel, überhaupt ist die Einrichtung spartanisch.

Der Mann sass auf dem Bett, zitterte vor Angst. Die Bettdecke über das Kinn hinauf hochgezogen. „Ich bin der Dolmetscher“, rief ich dem Zitternden zu. „Sie können Deutsch mit mir sprechen. Was ist denn Ihr Problem?“ Der Mann hörte auf zu zittern, als er die vertraute Sprache hörte, stöhnte aber laut. „Was kann ich denn für Sie tun?“, rief ich ihm noch aus sicherem Abstand zu. Der Mann schob unter dem Bettlaken den rechten Arm heraus, hob ihn langsam und zeigte in Richtung Waschbecken. Auf dem Waschbecken stand neben der Schale mit Seife und einem Pappbecher eine Flasche schwedischer Julmust. „Da, da“ – schrie mir der Patient entgegen: „Die wollen mich hier vergiften. Das ist Gift drin, Medikamente, Gift auf jeden Fall“ – er wies in Richtung Julmust-Flasche. „Die haben mir was in die Cola getan!“

Zum Advent hatte das Personal den Patienten eine Flasche Julmust geschenkt – zusammen mit „Pfefferkuchen“, den sog. „Pepparkakor“, den traditionellen Ingwerplätzchen. Julmust sieht nun mal aus wie Cola, schäumt auch so, schmeckt aber völlig anders. Mein Bruder nennt das „DDR-Cola“, was nicht völlig falsch ist. Für den Patienten der Rechtspsychiatrie war das Cola mit zugesetzten Medikamenten, Beruhigungsmitteln. Den Geschmack von Julmust kannte er nicht – und war daher völlig verzweifelt.

Ich nahm einen zweiten Pappbecher aus der Halterung am Waschbecken, goss mir ein Glas Julmust ein und trank es aus. Dann erklärte ich dem Patienten, was es mit dieser „Cola“ auf sich hatte. Am Ende weiss ich nicht mehr, wer am lautesten lachte: der Patient, die Pfleger oder ich. Es wurde auf jeden Fall noch eine ganze Literflasche Julmust gemeinsam ausgetrunken. Advent in Schweden eben.